Sailing On:
"How thin is the line between life and death", brüllt
Sailing-On-Frontfrau
Caroline mit der ersten Zeile des Songs "Aokigahara" fast schon verzweifelt ins Mikrofon. Der Song ist nach einem sagenumworbenen Wald in Japan benannt, der nach einem 1960 erschienenem Roman zum landesweiten Mekka für Selbstmörder avancierte. Schon das Intro ihrer "Hinterland"-12" macht klar, dass Sonnenstrahlen hier erst dann wieder den Boden berühren werden, wenn der Mensch aus seinen Fehlern gelernt hat. Und da das noch ein Weilchen dauern kann, rollt das Karslruher/Heidelberger Quartett bis dahin erst einmal einen kratzigen Teppich aus Tristesse und Düsternis aus. Ein depressives und brachiales Monstrum aus Post-Hardcore, Crust und Punk, dass sich allerdings melodischer gibt als die bereits tolle Debüt-EP. Leider war nach ihrem zweiten Release und einigen Konzerten im letzten Jahr schon wieder Schluss. Drummer
Daniel hat mit
Sleep Kit immerhin schon eine Folgeband, während
Caroline jüngst als Gastsängerin auf dem
Rant-Debüt nicht zu überhören war.
We Came Out Like Tigers:
I Would Set Myself on Fire for You,
The Pax Cecilia,
Mononoke,
Envy, und, und, und... . Sie alle machten es vor und etablierten die Geige im Hardcore, als wäre sie nur dafür geschaffen worden. Das Liverpooler Quartett
We Came Out Like Tigers kann ebenfalls auf einen talentierten und spielfreudigen Violinisten zurück greifen, ist aber weder eine Post-Metal- noch -Rock-Band. Zumindest nicht direkt. Den Klangkosmos der Band auf ein überschaubares Maß einzugrenzen, ist jedenfalls nicht so einfach. Allein die Geige bedient ein weitreichendes Spektrum, rollt atmosphärische Soundscapes aus, führt sich an anderer Stelle als zweite Gitarre auf oder schaukelt sich zur irischen Folklore hoch, wie im letzten Song "I Sing of Sorrow & Joy" ihres Debüt-Albums "Agelessness and Lack". Damit ist aber eben nur ein Bruchteil ihrer Musik erklärt, denn auch die übrigen Instrumente versuchen sich nicht zwangsläufig auf einen Stil festlegen zu müssen. Da wird die komplette Palette von Doublebass-Geschredder bis hin zu fiesem Black Metal und erbittertem Screamo bedient, während die Texte Themen wie Anti-Faschismus, Religionsfanatismus und ausbeutende Regierungen aufgreifen und somit im Punk wildern. Dass sich We Came Out Like Tigers trotz dieser Fülle nicht übernehmen, zeugt von der Klasse der Band, die mit "Agelessness and Lack" ein vielseitiges aber dennoch homogenes Album geschaffen hat. Meine Kaufempfehlung!
Divorce:
Mann oh Mann, da bleiben einem fast die Worte im Halse stecken.
Divorce aus Glasgow haben großen Spaß am Verzerren und Überlagern und erinnern mit ihrer noisigen Experimentalmusik an die Kracheskapaden von
Batalj, nur dass neben ächzendes Geschrei auch noch nervtötender weiblicher Sprechgesang hinzu kommt. Wäre der Name nicht bereits vergeben, hätte sich das Quartett auch gut und gerne
Bastard Noise nennen können.
Um damit ihre Musik zu beschreiben, reicht es jedenfalls alle mal. Fast ein Jahr nach ihrem S/T-Debüt-Album, gab die Band im August 2013 ihr Aus bekannt. Als Abschiedsgeschenk hinterließen sie ihre EP "Seance Fiction", die es nicht mehr ins Presswerk schaffte. ex-Drummer und ehemals einziges männliches
Divorce-Mitglied
Andy Brown zielt mittlerweile mit seiner neuen Band
Ubre Blanca auf wesentlich verträglichere Töne ab.
Some Are More Equal + Howl & Prey
Möchte man etwas bewegen, so sollte man mit diesem Wunsch möglichst nicht alleine da stehen. Als unzufriedenes Individuum wird man sowieso immer nur mit dem Strom schwimmen und die Zweifel zumindest solange in sich hinein fressen, wie die menschliche Hülle an Kapazitäten bereitstellt.
Some Are More Equal sind immerhin schon zu fünft und spoilern bereits im Bandnamen sowie im Titel ihres zweiten Releases "Waiting for Better Days", worum es hier gehen soll. "If we move every chain will break", resümiert der letzte Song "Four Walls" in seinem Schlussvers. Das alles wird in melodischen (Post-)Hardcore bzw. Hardcore-Punk verpackt, der sich durch seine düstere und depressive Grundstimmung am Boden hält. 2012 gab die Osnabrücker Band ihre Auflösung bekannt. Noch ehe die Frage aufkam, wie es denn mit den Beteiligten weitergehen solle, waren einige von ihnen bereits in einem neuen Projekt involviert.
Howl & Prey stellen mit ihrer Debüt-EP klar, dass sie nicht all zu weit entfernt von ihren Wurzeln im Hardcore graben wollen. Mal etwas schnellerer Post-Hardcore oder sich schwermütig voran schleppend, sich aber immer in Reichweite zur Melodie bewegend. Ihre EP nahmen sie anbietender Weise in der
Tonmeisterei auf.
Lizards Have Personalities:
2010 veröffentlichte das amerikanische Trio
Lizards Have Personalities gleich zwei EP's in Eigenregie und heimste für diese viel Lob ein. Ihr Debüt "In All Honesty" sollte den Hörern gleich mal zeigen, dass es sich die Band aus Lawrence, KS weder leicht machen, noch dass sie einfach bloß auf den überladenen Post-Hardcore-Zug aufspringen will. Der Opener "Like Lifetime Movies" stellte sich als Screamo-Querkopf gleich mal vorne an, verband metallische Riffs mit post-rockigen Nuancen und versetzte seine Melodie in ein Wechselbad der Gefühle. Das konnten
Biffy Clyro auch mal so gut, nur dass
LHP vollkommen auf cleanen Gesang verzichten und sich
Andrew Mcshan stattdessen lieber die Seele aus dem Leib schreit. In diesem Sinne dehnte sich "In All Honesty" auf fast 25 Minuten aus - und überzeugte. Der Nachfolger "Snows of Kilimanjaro" wollte sich auf die Lorbeeren seines Vorgängers nicht ausruhen und überraschte mit relativ kurz gehaltenen Songs. Nach einem sich steigernden Intro wird allerdings schnell klar, dass sich die Kürze nicht zwangsläufig in Eingängigkeit ausdrücken muss. Vielmehr teilten sich die ersten fünf Songs ihre Energie ein, um im furiosem, fast zehn minütigen Finalsong und Titeltrack nochmal vollkommen freizudrehen oder sich im mäandernden Post-Rock zu verlieren. Bis heute kamen noch einige Splits und Compilation-Songs hinzu. Drummer
Joel Layton ist seit diesem Jahr auch bei der Melodic-Hardcore-Punk-Crew
A Constant Refrain (Free-DL's
HIER) zu erleben, während
Mcshan kürzlich als Gast bei den deutschen Crust-Punks
Rant vorbei schaute. Hoffentlich nicht schon ein Abgesang auf
LHP, denn das wäre verdammt schade.
Chuck Bass:
Als SCREAMPUNKBOYGROUP kündigen sich Chuck Brass selber an und treffen damit vielleicht sogar den Nagel auf den Kopf. Gesellschaftskritik, gespickt mit emotionalen Tiefgängen und eigenen Unsicherheiten, die mit hysterischen Screams herausgespeit werden. Und dass sich hinter dem Bandnamen vier junge Männer verbergen, dürfte wohl auch der Definition einer Boygroup gerecht werden, nur dass es eben keine hysterischen Teeniegören sind, die die Kieler Band als Zielgruppe anvisieren. Zumindest nicht nur. Vielmehr sollten sich diejenigen angesprochen fühlen, die ihr Herz an mitreißenden, teils erbitterten Screamo verloren haben, der mit derben Riffs in die vollen geht, auch mal die seichten Töne trifft oder das Tempo ganz drosselt. Im Ganzen eine durchaus gelungene Debüt-EP, die mit Hilfe von vier Labels auf hundert rote Tapes verteilt wurde.
White Fields:
Das Coburger Quintett
White Fields exisitiert seit 2010 und brachte es nach ihrer tollen Debüt-EP "Chronicles" (2011, erschienen als CD und auf Tape) auf eine Split mit der australischen Emocore-Band
Perspectives (Free-DL's
HIER) und die 2012 erschienene "Miles from Home"-12". Letzt genanntes Release gestaltet sich nicht nur durch seine Gäste in "Grey Morning Lights" (mit
Michael der Regensburger Metalcore-Punk-Band und
Final-Exit-Labelmates
Blackstone ->Free-DLs
HIER) und in "Rust" (ft.
Philipp von den straight edge Hardcore-Punks
Dogchains ->Free-DL
HIER) abwechslungsreicher als der Vorgänger, sondern verpasst der eigens kreierten Tristesse und Schwarzmalerei der Band mit den instrumentalen Tracks "Autumn" und dem pianolastigen "Chapter Mine" mehr Einwirkzeit. Ansonsten bleibt die Band ihrem melodieverliebten und ansteckenden Modern Hardcore treu, der vor allem für diejenigen interessant sein dürfte, denen der Name
More Than Life mittlerweile zum Hals heraushängt. "Miles from Home" übrigens erscheint auf Vinyl in zwei verschiedenen Varianten: die bereits vergriffene red/black Vinyl mit alternativen Cover (60 St.) und die Standardversion auf orange/red Vinyl (200 St.).
Calculator & No Tongue
Melodie und Kakophonie passen nicht zusammen? Passen sie wohl! Beweise dafür lassen sich mittlerweile in sämtlichen Genres finden.
John Congleton und seine
Paper Chase waren darum bedacht, jedweilige Harmonie in ihrem morbiden Indierock zu zerstören.
Times New Viking verstümmelten ihren Garagerock fast bis zur Unkenntlichkeit und
The Rational Academy drehten ihren Shoegaze mit ganz viel Noise durch den Fleischwolf. Im Weitesten Sinne gehören wohl auch
Dillinger Escape Plan zu dieser Riege. Auch
Calculator aus Los Angeles können sich bei aller Liebe zur Melodie nicht so recht mit dem Schönklang anfreunden und verbinden Stilelemente, die sich eigentlich abstoßend finden. Ihr diesjährig erschienenes Debüt-Album "This Will Come to Pass" ist in diesem Sinne eine besonders willkürliche Laune der Band. In "Overture" beispielsweise platziert die Band ein Feel-Good-Chor inmitten von garstigen Post-Hardcore, während in "Gasping, but Somehow Still Alive" entgegen rauhem Mid-90's-Emocore ein Indie-Pop-Song läuft. Auch "Brooding Over", "Permanent State of Daylight" und "Grinning at the Thought" beinhalten diese Momente, bei denen man nicht so recht weiß, ob der Band gerade die Puste ausgegangen ist oder man versehentlich die Playlist geändert hat. Weder - noch. Es zeigt, dass die Band neben ihrer Dynamik und treibenden Energie, auch dem Experiment seine Freiräume lässt. Ein Konzept, dass anscheinend auch
Comadre-Chef
Jack Shirley überzeugt hat, der sich für die Aufnahme verantwortlich zeichnete. Meine Kaufempfehlung #2!
Was mit all dem nun also
No Tongue zu tun haben? Zunächst einmal teilen sich beide Bands zwei ihrer Mitglieder. Zum anderen muss auch das Oaklander Quartett nicht melodiöser sein als erforderlich und orientiert sich dabei am ausufernden emotionalen Hardcore der 90er, der von Bands wie
Milemarker oder
Song of Zarathustra geprägt wurde. Aber auch die diversen Vor- und Nebenbands, zu denen neben o. g.
Calculator auch die Emoviolence-Combo
Ten Thousand Leagues und die Art-Punks
OYO zählen, zeigen, dass sich hinter
No Tongue eine Gruppe Querdenker versammelt hat. Nach ihrem noch etwas punkigeren Debüt "///" im letzten Jahr, folgte im August 2013 ihre zweite EP "Body + Mind", die als schwarze 7" über
KYEO Speaks, dem DIY-Hardcore-Label von
Ten Thousand Leagues-Gitarrist
Mark Chen, erschien.
Pride and Ego Down:
Ein Jahr ist es jetzt her, als die Kölner Post-Hardcore-Band
Pride and Ego Down ihre Debüt-12" "Cloud Moving Mind" in Eigenregie veröffentlichte. Zwei Monate später waren sie auch auf unseren ersten Gerda-Sampler vertreten. In diesem Jahr folgte dann eine US-Tour. Neue Songs konnte in diesem Jahr bislang nur Sänger
Niklas mit seinem Solo-Projekt
You ≠ Me aufweisen. Und nun plötzlich erscheinen unangekündigt über Bandcamp zwei neue Songs der Band, die einen regelrecht aus den Socken hauen und abermals nicht mit den herkömmlichen Genredefinitionen auskommen. Anscheinend ein Umstand, der auch die Band selbst etwas verunsichert, die deshalb auf Nummer sicher geht und sich mit einigen Tags mehr zudeckt. Post-Hardcore? Jaaa. Screamo? Auch! Emo? Auf jeden Fall! Und wer will, kann auch etwas Punkattitüde in ihren Texten finden. Aber bereits das eingenebelte Cover ihrer 12" zeigte, dass
PAED von einer sich merkwürdig anfühlenden Aura umgeben sind und somit eher auf Atmosphäre bauen, als Schubladen voreilig aufzustoßen. Der erste neue Song "Our Great Desire" erinnert in seiner tristen und melancholischen Art etwas an
Deftones, ehe sich markerschütterndes Geschrei und verzweifelter Gesang breit machen.
Ein tief sitzender und grandioser Song, der trotz seiner relativ kurzen Spielzeit dermaßen viele Phasen durchläuft, wie es andere Bands nicht mal auf Albumlänge hin bekommen würden. Der zweite Song "Broken Back" nimmt sich für diesen Hürdenlauf sogar fünf Minuten Zeit, ohne Ermüdungserscheinungen hervorzurufen. Das Cover dazu entlieh sich die Band abermals aus dem Reportoire des Fotokünstlers
Teye Gerbracht.
Außerdem
Henry Fonda:
Henry Fonda könnten dem einen oder anderen schon flüchtig auf einer Split begegnet sein, vielleicht sogar ohne es zu bemerken, denn in der Regel überdauern ihre Songs nur selten die Ein-Minuten-Grenze. Nach einiger Zeit Ruhe meldet sich das Berliner Quintett nun unerwartet mit ihrem ersten Full Lenght zurück. Und unerwartet deshalb, weil die Mitglieder in letzter Zeit vor allem mit diversen Nebenbands wie
Afterlife Kids,
Ancst oder
Halbstark auf sich aufmerksam machten. Schön zu hören, dass die Band nun also seine treuen Fans auf Albumlänge bei den E**rn packt, wobei 18 Songs in 15 Minuten recht schnell vergehen können. Geschreddert und verkloppt wird dennoch, was bei drei nicht rechtzeitig auf den Bäumen ist. Ein richtig "dreckiger" und "hässlicher" Bastard, geformt aus den ausgekotzten Eingeweiden von Powerviolence, Punk, Grind-, Fast- und Trashcore. Somit vor allem für Fans der San-Diego-Ecke (
Charles Bronson,
Locust, etc.) ein routiniertes Hörvergnügen. Kurz vor Beginn ihrer Herbsttour gab's den Album-Download noch kostenlos, der derzeitige Mindestpreis von 2,- EUR dürfte für Genrefans aber sicherlich auch zu stemmen sein. Über
Nerdcore Records erschien die auf hundert Stück limitierte Tour-Edition von "Deutschland, du Täter!"
, auf einseitig bespieltem, weißem Vinyl mit B-Seiten-Siebdruck ("Good Night Slim Pride"). Leider bereits vergriffen. Warten wir also auf die reguläre Pressung.
Buy Here
Retsar Baï Naïm
Eine Band, die anscheinend gar nicht so übermäßig daran interessiert ist, bekannt zu werden. Keinerlei Internetpräsenz und auf Bandcamp finden wir neben den drei Songs ihrer s/t-EP lediglich Konzertdaten und Erscheinungsdatum. Nicht einmal für ein Cover hat es gereicht. Immerhin ist die Musik in der Lage für sich selbst zu sprechen. Und die könnte uns Aufschluss darüber geben, was die Pariser Band Ratsar Bai Naim so alles in ihrem Proberaum hört. Nämlich fiesesten und punkigen Fast- bzw. Trashcore der Marke Charles Bronson und derartige Problemkinder aus den Neunzigern. Einige kleine Eckdaten zu den Mitgliedern ließen sich schließlich doch noch ausfindig machen: anscheinend handelt es sich um ein Quartett, dass dem französischem Hardcore-Untergrund entsprungen ist und deren Mitglieder sich bereits bei nicht wesentlich mehr bekannteren Bands wie Napoleon Solo, Bile Clinton, Youssouf Today, Unlogistic und Black Shabbath herum getrieben haben. Ihre Drei-Song-Debüt-EP haben sie demnach wahrscheinlich im 20G Recording Studio aufgenommen, einem kleinen Homestudio in einem Pariser Vorort.